23. Oktober 2025

Das Mädchen

13. Oktober 1985. Während Mutter am Empfang der Psychiatrischen Klinik steht und der Empfangsdame deine Kleider und Waschzeug in die Hände drückt, bringst du dich einige Stockwerke weiter oben, in deinem Zimmer, um. Du wurdest 38 Jahre alt. Zurück lässt du eine 36jährige Mutter und ihr knapp fünfjähriges Kind. Ein Mädchen.

So beginnen Dramen - und Lebensgeschichten.

Das Mädchen wächst behütet, aber auch alleine auf. Die Mutter gibt ihr Bestes, das Mädchen ist sich dessen sicher. Es merkt aber auch bald, dass es der Mutter nicht gut geht. 

Du hast ihr Schmerzen fürs ganze weitere Leben zugefügt. Die Narben verblassen nicht. Die Leere, die dein Tod ausgelöst hat, füllt sie mit Flüssigem. 

Das Mädchen wird zur Jugendlichen - und du zu ihrem König. Sie hievt dich auf einen Thron. Bester Vater, gescheit, gebildet, fürsorglich. Gescheitert, auch. Aber das merkt das Mädchen erst später - mit den Jahren.

Während Mutter sich aufopfernd um andere kümmert ,sich dabei vergisst und ihr Leben an einen narzisstischen Egoisten verschwendet, lebt das Mädchen, die Jugendliche, ein zurückhaltendes Leben. Die Gedanken der Nachbarn immer im Hintergrund - was die wohl denken? Angepasst, leise, brav. Auffallen tut sie trotzdem irgendwie. Sie will nicht so recht in den von der Mutter vorgesehenen Rahmen passen. Mutters Umfeld, ist nicht ihr Umfeld. Die Leute dort, sind nicht ihre. Das Leben dort, ist nicht ihres. 

Sie wird kaum gefragt, was sie möchte oder was sie sich für ihr Leben wünscht. Sie kann machen, was sie will. Fast. Ihr Herzenswunsch darf sie nicht machen - die Mutter hat Angst. Sie möchte keinen weiteren Suizid in der Familie. Und versperrt dem Mädchen damit den Weg. Das Mädchen, nichts anderes gewöhnt, folgt der Mutter und tümpelt fortan in einem ereignislosen Leben in ereignislosen Jobs.

Bis sie nicht mehr kann. Aufgeben, oder neu anfangen. Etwas dazwischen gibt es für das Mädchen, mittlerweile eine Frau geworden, nicht. Sie entschliesst sich für den Neuanfang. Der Egoist findet das Vorgehen befremdlich, die Mutter sagt, wie meistens, nichts dazu. Das Mädchen zieht es durch.

Sie lernt viel zum Thema Suizid und anderen Themen, die ihr Leben geprägt haben. Vaters Glanz verblasst - an dessen Stelle treten Wut und noch mehr Fragen - aber auch Verständnis - wenn auch vor allem aus professioneller Sicht.

Mutter wird immer kränker, bis sie dann stirbt. Suizid auf Raten. Irgendwie fühlt es sich so an.

Das Mädchen ist nun alleine. Vater tot, Mutter tot. Sie rafft sich auf und macht weiter. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Versucht, das Beste aus diesem einen Leben rauszuholen. Mitnehmen, was geht. Mal Rollercoaster fahren, mal Traktor. 

Sie denkt oft an Vater. Und noch mehr an die Mutter. Sie möchte es besser machen - und hat sich fürs Leben entschieden.



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